Du sollst Vater und Mutter ehren

Gesellschaften verändern sich und damit auch die Bedeutung von Begriffen. Ich war viele Jahre mit einer Frau verheiratet, die in einem Land der Dritten Welt aufgewachsen ist. Bestieg ich mit ihr den Flieger, damit sie mal wieder ihre Eltern besuchen und mit ihren zahlreichen Geschwistern reden konnte, wurde ich innerhalb von wenigen Stunden in ein Land versetzt, in dem irgendwie die Zeit stehengeblieben war. Nicht nur, dass hier noch immer die Mädchen ihr vorrangiges Lebensziel darin sahen, einen "guten" Mann zu finden, der sie möglichst selten schlägt und ihnen möglichst viele Kinder schenkt. Auch das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern war anders, als ich es gewohnt war.

Dass meine Frau respektvoll verstummte, sobald ihr Vater die Stimme erhob, war unübersehbar. Genauso wie die Tatsache, dass sie sich trotz ihrer damals 25 Jahre noch immer wie ein unmündiges Kind aufführte, sobald die Eltern in Sichtweite waren.

Einmal nahm mich ihr Vater sogar vertrauensvoll zur Seite, um ein paar Worte von Mann zu Mann zu wechseln. Ob ich sie den gelegentlich übers Knie lege, wollte er von mir wissen. Das brauche sie nämlich von Zeit zu Zeit, versuchte er, mir seine wertvolle Erfahrung als Vater zu vermitteln. Jede Frau braucht das, war seine feste  Überzeugung und er meinte, ich würde lange Freude an ihr haben, wenn ich seinen Rat beherzige. 

"Du brauchst noch immer eine Menge Erziehung", waren seine Worte, als es einmal beim gemeinsamen Abendesen zu einer Meinungsverschiedenheit kam, und meine Frau nicht anders konnte, als ihm heftig zu widersprechen. Natürlich, den Eltern ins Wort zu fallen war in seiner Denke nicht vorgesehen. Kinder hatten zu gehorchen und die Eltern zu ehren, lehrte man in seiner Baptisten-Gemeinde heute noch wie vor hundert Jahren. Und eine Tochter konnte zwar verheiratet sein und selbst schon Kinder haben. Sie blieb dennoch seine Tochter und er als ihr Vater wusste natürlich, was das Beste für sie ist. Ich habe sogar von jungen Frauen gehört, die im Beisein ihres Ehemannes geohrfeigt wurden.

Zu Hause darauf angesprochen erklärte mir meine Frau, was ihr Vater unter "Erziehung" verstand. Er hatte sieben Töchter und sie war offensichtlich die rebellischste unter ihnen. Deshalb hatte sie auch während ihrer gesamten Kindheit und Jugend immer und immer wieder Prügel von ihm bezogen. Und das so, wie es in diesem Land jeder verantwortungsbewusste Vater tat. Meist mit dem gefürchteten Lederriemen, für den es in der Küche an der Wand einen eigenen Platz gab, wo ihn jede der drei Gören jederzeit sehen konnte. Gründe für seine Anwendung gab es unzählige. Schlechte Noten waren natürlich der Klassiker. Auch wenn eines der Mädchen später als erlaubt nach Hause gekommen war, konnte man kurz darauf sein Kreischen hören. Der erste heimliche Kuss mit einem Jungen flog natürlich sofort auf, denn die Augen der Nachbarn waren überall und besonders die Frauen waren der Überzeugung, dass junge Männer nur das Eine im Sinn hatten und man ein Mädchen unbedingt davor bewahren müsse.

Die Pille gab es nur auf Rezept und das verlangte einen Besuch beim einzigen Frauenarzt am Ort, der natürlich neugierige Fragen stellte. Aber das war nicht der einzige Grund, der ein junges Mädchen davon abhielt, sich vor ungewollten Schwangerschaften zu schützen. Neben dem Arzt würde ja auch der Apotheker davon wissen und dessen Frau galt als besonders mitteilsam in der Stadt. Außerdem hätte jede Mutter geradezu hysterisch reagiert, wenn sie eine Packung eindeutiger Pillen im Versteck ihrer Tochter gefunden hatte. Ein Mädchen, das nicht vor hatte, sich vor der Ehe mit einem Mann einzulassen, braucht schließlich "so etwas" nicht. Und jede andere konnte nur ein Flittchen sein, das sich mit jedem herumtrieb und irgendwann Schande über ihre Familie bringen würde. Also galt es, ihr gründlich die Flausen auszutreiben und wer könnte das besser als ihr Vater, der schon von klein auf ihre Erziehung in die Hand genommen hatte.

"Ich habe alles zu spüren gekriegt," meinte meine damalige Frau: "Den Rohrstock in der Schule und seltener auch zu Hause. Manchmal hat Mutter ene Rute aus dünnen, schmiegsamen Zweigen angefertigt, wenn eine Bestrafung fällig war. Und dann war da natürlich immer der Lederriemen. Nachdem ich mich unter seinen Schlägen gekrümmt hatte, musste ich meinem Vater auch noch für die Bestrafung bedanken. Das hieß, ich musste mich vor ihm hinknien und mit demütig gesenktem Kopf seine rechte Hand Küssen. Er schloss mich dann für mehrere Stunden in mein Zimmer ein, damit ich Zeit habe, zur Besinnung zu finden und mein Verhalten zu bereuen."

Ich hatte von derartigen Familienritualen bisher nur in alten Romanen gelesen. Auch da wurde der Vater stets als strenger Hausherr beschrieben, dessen Anwesenheit Ehrfurcht auslöste und dessen Töchter nichts mehr fürchteten als die eindeutige Anordnung, nach oben zu gehen und sich "bereit zu machen". Aber die Vergangenheit Europas ist in anderen Teilen der Welt noch immer tagtägliche Wirklichkeit.