Lehrjahre sind keine Herrenjahre
Als meine Mutter ihre Schule beendet hatte, herrsche Krieg in Deutschland. Es war eine raue Zeit und ein junges Mädchen war froh, irgendwo unterzukommen und eine Lehre machen zu dürfen. In ihrem Fall war es eine Ausbildung zur Schneiderin, denn ihre Eltern waren der Meinung, dass das Mädel etwas Praktisches lernen soll, das ihr später auch als Mutter und Ehefrau nützlich sein würde. Da war eine Scheiderlehre natürlich ideal.
Damals gab es noch keine Auszubildenden, die schon ein richtiges Gehalt bekamen und dieselben Rechte besaßen, wie andere Arbeitnehmer auch. Damals wurden Berufseinsteiger noch als Lehrlinge bezeichnet und bildeten die unterste Kaste in jedem Betrieb.
Als Lehrling musste meine Mutter nicht nur Besorgungen für die Meisterin erledigen. Sie musste auch die Schneiderwerkstatt aufräumen, wenn alle anderen gegangen waren. Und sie musste möglichst schnell all die Fertigkeiten erlernen, die eine Schneiderin auszeichnen, damit man sie dem Betrieb von Nutzen war und sich selbst das kleine Taschengeld bezahlt machte, das sie dafür bekam. Geld, das sie übrigens zum überwiegenden Teil zu Hause abliefern musste. Denn wer Geld verdient, muss auch zum Unterhalt der Familie beitragen, lautete damals die Devise.
Damals unterstanden Lehrlinge noch einem Lehrmeister. Im Fall meiner Mutter war es eine Meisterin. Sie betrieb im kleinen Städtchen Kamenz bei Dresden eine kleine Schneiderei, in der man sich vorwiegend damit beschäftigte, Männerhosen enger oder weiter zu machen und Kleider anzupasen, die von der älteren Schwester an die jüngere weitergereicht wurden. Hin und wieder wurde auch mal ein komplettes Kleid in Auftrag gegeben. Aber, wie gesagt, es war Krieg und eigentlich hatte niemand Geld für so einen Luxus.
"Wenn sie nicht pariert, dann geben Sie ihr ruhig ein paar drüber," hatten die Eltern meiner Mutter gesagt, als sie ihre Tochter zur besagten Meisterin in die Lehre gaben. Es war eine ziemlich resolute Frau, die nach dem Tod ihres Mannes allein die Schneiderwerkstatt führte. Sie versicherte, dass sie schon viele Lehrmädchen unter ihren Fittichen genommen hätte und ganz bestimmt dafür sorgen würde, dass aus der jungen Inge "etwas ordentliches" wird.
Wo Lehrlinge am Werk sind, passieren natürlich auch Fehler und wenn dabei Material unbrauchbar wird, ist das für einen Lehrbetrieb ein ärgerlicher Verlust. Deshalb wurden Lehrlinge zu äußerster Sorgfalt angehalten und jede Unachtsamkeit wurde streng bestraft. Die Schneidermeisterin hatte daüür ein kleines Rohrstöchen parat, das, wie mir meine Mutter versicherte, praktisch täglich zum Einsatz kam. Kam eines der Lehrmädchen zu ihr, und es stellte sich heraus, dass eine Arbeit nicht zur vollsten Zufriedenheit ausgefallen war, musste die Unglückliche damit rechnen, auf der Stelle zwei drei strenge Hiebe auf ihre Schenkel zu beziehen. Dafür pflegte die Meisterin der Betreffenden kurzerhand den Rock anzuheben, um den Rohrstock auf das nackte Fleisch zu applizieren. "Es war nur ein dünner Rohrstock," erklärte mir meine Mutter, "aber sie hat kräftig zugeschlagen und es gab keine, die danach nicht laut heulend in der Werkstatt herumgetanzt ist.
Eine "richtige" Tracht Prügel hat meine Mutter nur einmal empfangen. Sie hatte wohl beim Stoffzuschnitt einen groben Fehler gemacht und dadurch gut zwei Meter teuren Kleiderstoff ruiniert. Für die übliche Bestrafung auf der Stelle war das wohl eine zu große Unachtsamkeit. Dafür musste ein Lehrmädchen richtig büßen und zwar so, dass es noch lange daran denken würde. Mutter wurde dafür auf die Toilette geschickt, um ihr Höschen auszuziehen. Dann musste sie sich über einen der zahlreichen Tische legen. Der Rock wurde bis über die Taille hochgeschlagen und es setzte ein gutes Dutzend kräftig durchgezogene Stockhiebe auf den blanken Po. Was eine gute Meisterin ist, die weiß eben, wie man eine Handvoll kichernder Gören zu behandeln hat, damit etwas ordentliches aus ihnen wird. Und eine Tracht Prügel hat noch keinem jungen Mädchen geschadet. Eine Denkweise, die auch in jedem Büro vorherrschte, wo Lehrmädchen nicht selten mit den langweiligsten Arbeiten beschäftigt wurden und jederzeit damit rechnen mussten, sich mit entblößtem Hintern über der Schreibtischkante wiederzufinden. Wobei meine Mutter meinte, dass das mit dem nackt machen, eigentlich nicht üblich war. Ihre damalige Schneidermeisterin hatte jedoch nur solche Lehrmädchen angenommen, deren Eltern ausdrücklich zugestimmt hatten, dass sie den Stock anwenden konnte, wie es ihr beliebte.