Ist es Missbrauch oder ist es Erziehung?

Die Frau verstand die Welt nicht mehr. „Ohne meine Kinder bin ich am Ende und will nicht mehr leben,“ waren ihre Worte, als das Strafmaß verkündet wurde. Fünfzehn Monate auf Bewährung sollte die zweifache Mutter bekommen und obendrein noch eine Geldstrafe von 1800 Franken zahlen. Doch weshalb die Erziehung ihrer Töchter Missbrauch sein sollte, leuchtete ihr nicht ein. Schließlich hatte sie doch nur getan, was in ihrer Heimat alle tun.

Die 42-Jährige stammte aus El Salvador und hatte einen Schweizer geheiratet, dem sie gefolgt war und seitdem in der Schweiz lebte. Mit ihm hatte sie auch die beiden Töchter, um die es bei der Verhandlung ging. Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung waren sie 13 und 21 Jahre alt.

In den Medien war in großen Lettern von „jahrelangem Missbrauch“ die Rede. Das größere Mädchen habe die Mutter fast täglich, mindestens aber einmal in der Woche geschlagen, wusste zum Beispiel die NZZ zu berichten. Meist habe sie einfach spontan mit den Händen zugeschlagen. Später bezog der Teenager jedoch immer häufiger Prügel mit einem Gürtel oder einem Kleiderbügel. Ihre jüngere Schwester wurde zwar meist verschont, aber so etwa einmal im Monat war auch sie dran.

Die Beschuldigte wies alle gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück. Der Vater habe die Töchter zu Falschaussagen gezwungen, so ihre Überzeugung. Doch mit einer Aussage verriet sie sich letztendlich selbst: „In der Bibel steht, dass man seine Kinder züchtigen solle, damit wir uns ihretwegen nicht schämen müssen.“ Die Richterin wunderte sich zwar, dass der Mann ein ganzes Jahrzehnt lang tatenlos zugesehen hatte, doch sie sah keinen Grund, die Aussagen der Kinder anzuzweifeln und bezeichnete deren Kindheit als Martyrium.

Wir haben es hier also mit einem Mann zu tun, der eine Frau aus Südamerika heiratet. Sie kommt aus einem tief katholischen Land, in der die Bibel das Maß der Dinge ist und Kinder auch heute noch so erzogen waren, wie es immer war. In den Schulen in El Salvadors hängt der Rohrstock gut sichtbar in jedem Klassenzimmer. Und wenn er zum Einsatz kommt, müssen sich nicht nur die Jungs über eine Bank in der ersten Reihe legen. Auch die Mädchen werden derselben Prozedur unterzogen. Kinder muss man streng erziehen, wenn sie auf dem richtigen Weg bleiben sollen, so die landläufige Meinung.

Die besagte Mutter hat es nicht anders erlebt. Als kleines Mädchen hatte man sie übers Knie gelegt, wenn sie nicht gehorchte und als Teenager hatte sie ganz selbstverständlich den Stock zu spüren bekommen. In der Schule zumindest, denn Vater pflegte einen alten, zerschlissenen Ledergürtel zu nehmen. Schließlich muss man ganz besonders bei den Mädchen darauf achten, dass sie keine Dummheiten machen und Schande über die Familie bringen.

Eine Ohrfeige als Körperverletzung und eine waschechte Tracht Prügel als Missbrauch zu bezeichnen, das gibt es eben nur in ganz wenigen Ländern der Welt. Und selbst in diesen Ländern klaffen öffentliche Meinung und private Praxis nicht selten weit auseinander. Auch wenn wirklich strenge Väter und Mütter immer seltener werden.

Aber so mancher Vater eines renitenten Teenagers sympathisiert offensichtlich auch in der westlichen Welt mit der guten alten Praxis. Auch wenn er es nie offen aussprechen würde. Und er holt sich ganz bewusst eine Frau aus fernen Ländern, in denen man das Wort Emanzipation noch nicht kennt und Teenager nur ein Lebensziel haben: einen guten Mann zu finden, der für sie sorgt und danach alles zu tun, um diesen Mann zufrieden zu stellen.

In diesen Ländern spricht man auch nicht von Dating, wenn junge Leute zusammenkommen. Und man geht nicht irgend eine mehr oder weniger feste Beziehung ein. Dort wird ein Mädchen noch richtig geheiratet und der junge Mann fragt vorher ihren Vater, ob er sie haben kann.

Der oben zitierte Schweizer, der tatenlos zugesehen hatte, wenn seine Töchter die altbewährten Erziehungsmethoden erfuhren, hatte das also vermutlich nicht aus Schwäche getan, sondern aus Überzeugung. Sie hat schon wieder eine schlechte Note nach Hause gebracht? Dann sind ein paar Ohrfeigen das Mindeste? Sie hat sich nach der Schule mit einem Jungen herumgetrieben? Dann tut es gut, ihr Kreischen zu hören, während der gute alte Ledergürtel seinen Dienst gut. Vielleicht hat er sie sogar dabei festgehalten. Und er hat eine Entschuldigung geschrieben, damit sie nicht zur Schule musste, bis die Striemen verschwunden waren.

Die Realität hinter einer Zeitungsmeldung kann also völlig anders aussehen, als es der empörte Leser erfahren wird.