Erziehung zwischen Recht und Tradition
Jeder Kontinent, jede Region, jedes Land hat seine eigenen Gepflogenheiten. Und seine eigenen Vorstellungen davon, was erlaubt und was verboten ist. Was man tun darf und was nicht. Was die Menschen entrüstet und worüber sich niemand aufregt. Vergewaltigung in der Ehe? In den meisten Ländern dieser Welt können Männer über so ein Gesetz nur lachen. Gewaltfreie Erziehung? Daran glaubt nur ein winziger Bruchteil der acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Denn im weitaus größten Teil der Welt gelten noch heute genau dieselben Bräuche wie schon seit hunderten von Jahren.
So gibt es auch im 21. Jahrhundert noch einige Länder, in denen man von einem Richter zu Stockhieben verurteilt werden kann. In den weitaus meisten Schulen dieser Welt wird nach wie vor körperliche Züchtigung praktiziert. In der Kindererziehung gilt eine Tracht Prügel noch immer als die wirksamste Erziehungsmethode. Und während hierzulande die Frauen für Emanzipation und Gleichberechtigung kämpfen, sind sie in fast allen anderen Ländern schon froh, wenn sie einen Mann gefunden haben, der sie nicht allzu oft schlägt.
Man sollte sich daher davor hüten, die Welt nach den Wertvorstellungen zu beurteilen, die man selbst von Klein auf mitbekommen hat. Ein Mädchen schlägt man nicht? Das lernt hierzulande jeder Junge schon im Sandkasten und es ist vor allem die Mutter, die ihm das eingetrichtert hat. Spätestens in der Schule wird er jedoch mit Gleichaltrigen in Berührung kommen, die in einem völlig anderen Kulturkreis aufgewachsen sind und das alles ganz anders sehen. Die fühlen sich nämlich ganz als Mann, auch wenn sie erst zehn sind. Mädchen sind für sie untergeordnete Wesen, denen man zeigen muss, wo ihr Platz im Leben ist. Schläge sind für sie das naturgegebene Recht des Mannes und das Schicksal der Frau. Eine Einstellung, die für rund ein Drittel der Menschheit völlig normal ist und das tägliche Leben bestimmt.
Die erste große Liebe mit vierzehn und der erste feste Freund mit sechzehn? In der Mitte Europas ist das mittlerweile völlig normal und weitsichtige Mütter geben ihren Töchtern rechtzeitig die Pille, bevor die eine Dummheit machen. Denn die Dummheit ist nicht, sich mit sechzehn ficken zu lassen, sondern davon schwanger zu werden. Irgendwann später wird sie dann ihr fünfte ganz große Liebe heiraten und ihr Gatte wird keinen Anstoß daran nehmen, dass sie schon ein Dutzend Schwänze in sich gespürt hat.
Die junge Türkin kennt das nur von ihren Schulfreundinnen. Sie nimmt es mit Staunen wahr, wenn diese geradezu miteinander wetteifern, als Erste mit einem Jungen geschlafen zu haben. Sie kann es kaum glauben, dass sie geradezu stolz darauf sind, nicht mehr jungfräulich zu sein. Sie selbst denkt nämlich nicht mal im Traum daran, es ihnen gleichzutun. Man hat sie nämlich gelehrt, dass ein Mädchen ist nur ein gutes, reines, ehrenvolles Mädchen ist, wenn es sich für ihren Ehemann bewahrt und vor der Hochzeit keinen Mann an sich herangelassen hat. Deshalb darf die junge Türkin vieles nicht, was für ihre deutschen Freundinnen ganz normal ist. Und sie weiß nur allzu gut, dass sie zu Hause die Tracht Prügel ihres Lebens bezieht, wenn sie beim heimlichen tête-à-tête mit einem Jungen erwischt wird.
Denn an ihrer Keuschheit hängt die gesamte Ehre der Familie. Und die ist nur gewährleistet, wenn die Tochter unberührt in die Ehe geht und in der Hochzeitsnacht den Nachweis erbringen kann, dass ihr Ehemann der Erste ist, der je in sie eingedrungen ist und damit Besitz von ihr ergriffen hat.
Nicht viel anders sieht es für die junge Inderin aus, die mit ihrer Familie nach Großbritannien ausgewandert ist. Mit dem Unterschied, dass sie noch nicht einmal ein Mitspracherecht hat, wenn es um die Wahl ihres zukünftigen Gatten geht. Diese entscheidende Frage wird schlicht und einfach zwischen ihren Eltern und den Eltern ihres Zukünftigen geklärt. Ihre Meinung ist dabei irrelevant und es wird sie auch niemand danach fragen. Der Einfluss ihrer westlichen Schulfreundinnen kann zwar dazu führen, dass auch sie sich in einen Mann verliebt. Aber der Rohrstock ihres Vaters wird ihr solche Flausen schnell austreiben. Schließlich können nur Eltern wissen, wer der Richtige für ihre Tochter ist und sie haben daher auch das alleinige Recht, darüber zu entscheiden.
Wenn sie Glück hat, wird sie ihren Ehemann schätzen und lieben lernen. Wenn nicht, wird sie eben das tun, was von ihr erwartet wird und ihm eine gehorsame Ehefrau sein. Denn in ihren Kreisen hat ein Ehemann weitgehende Rechte. Auch er besitzt ganz selbstverständlich einen Rohrstock und den wird er ohne zu zögern anwenden, wenn sich seine Frau gegen ihn auflehnen sollte. In England kursieren unzählige Berichte von jungen Inderinnen, die nach der Hochzeit mit einem Unbekannten unter Tränen in ihr Elternhaus zurückkehrten, um vor dem Mann Schutz zu suchen, der sie so behandelt hat, wie man eine unwillige Ehefrau eben behandelt. Doch das Ergebnis war immer dasselbe. Die junge Frau wurde zuerst von ihrem Vater gezüchtigt und dann zu ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückgebracht.
Natürlich sind in England Zwangsehen genauso verboten wie in allen Ländern der westlichen Welt. Aber wo es keinen Kläger gibt, da wird auch kein Richter in Aktion treten und wo sich Menschen ihren eigenen Gebräuchen mehr verpflichtet fühlen als den örtlichen Gesetzen, da wird auch keine Polizei gerufen. Denn Gesetz ist Gesetz. Aber religiöse Bräuche und Jahrtausende alte Traditionen lassen sich mit Paragrafen allein nicht aus der Welt schaffen.