Mit der Rute den Eigensinn vertreiben

Erziehungsratgeber aus dem 18. und 19. Jahrhundert kannten eigentlich nur zwei Mittel zur wirksamen Erziehung von Kindern und Jugendlichen: Zwang und Schläge. Lange bevor das Thema von Psychologen besetzt und problematisiert wurde, schrieben erfahrene Pädagogen dicke Bücher über Erziehung aus der Praxis und für die Praxis.

Die Erziehungsbücher eines Dr. Schreber zählten im 19. Jahrhundert zu den Bestsellern, wenn es diesen Begriff damals schon gegeben hätte. Sie waren in Deutschland so beliebt, dass sie insgesamt 40 Neuauflagen erreichten und darüber hinaus in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Er und andere Autoren wurden nicht müde, immer wieder zu betonen, dass man nicht früh genug damit beginnen könne, ein Kind zu erziehen, um es vor schädlichem „geistigen Unkraut“ zu befreien. Und unter Erziehung wurden vor allem Schläge verstanden, auf die erfolgreiche Eltern unter keinen Umständen verzichten sollten. Dabei wurde als Richtwert der 5. Monat genannt, ab dem man einem Kind eindeutig fühlbar seine Grenzen aufzeigen müsse.

Was die Erziehungsratgeber im Blick hatten, waren vor allem unerwünschte Eigenschaften, wie Bosheit, Widerspenstigkeit, Eigensinn, Trotz  und halsstarriges Verhalten. Diese Probleme stehen über viele Seiten im Mittelpunkt der Ratschläge. In seinem Buch „Versuch von der Erziehung und Unterweisung von Kindern“, aus dem Jahr 1748 rät ein gewisser J. Sulzer allen Erziehern, „dass sie ihnen gleich anfangs ... durch die Rute den Eigensinn vertreiben“ sollen, um dadurch „gehorsame, biegsame und gute Kinder“ zu bekommen. Seine Überzeugung war, dass solcher Eigensinn schon in den ersten drei Lebensjahren nur durch „eine ganz mechanische Art“ bekämpft werden müsse.

Dr. Schreber empfiehlt in seinen „Ratschlägen für die Erzieher“ aus dem Jahre 1858 bereits bei Kleinkindern jeden Eigensinn auszumerzen. So solle „grundloses Schreien“ bis zur Beruhigung oder zum Einschlafen des Kindes durch „beharrlich wiederholte körperliche fühlbare Ermahnungen“ bekämpft werden.

In seinem Werk „Gedanken von der Erziehung von Kindern“, das 1752 erschien, hat sich J.G. Krüger vor allem der Bosheit verschrieben. Diese durchaus nicht nur kindliche Eigenschaft hat es ihm offensichtlich besonders angetan. Seiner Meinung nach kann nicht früh genug damit begonnen werden, ein Kind zu schlagen, wenn sie sich aus Bosheit weigert, das zu tun, was die Eltern wollen. Dabei soll man mit dem Schlagen „nicht eher aufhören“, bis das Kind „das tut, dessen es sich vorher aus Bosheit weigerte“. Wobei der Autor kein Wenn und Aber kennt und meint: „Es ist recht und billig, ein Kind auch wegen Kleinigkeiten zu schlagen, wenn etwas aus Bosheit heraus getan wurde.“

Wobei es sich bei all den Büchern aus dieser Zeit immer wieder um ein einziges Thema dreht: Gehorsam.

Neben der Bekämpfung des Eigensinns sollte nach J. Sulzer „im zweiten und dritten Jahr das Hauptwerk der Erziehungsarbeit auf den Gehorsam abzielen“. Überhaupt ist für ihn Gehorsam so wichtig, „dass eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams". Das Kind müsse um jeden Preis daran gewöhnt werden, „seinen Eltern zu gehorchen“. Wobei Sulzer hier vor allem ein Mittel empfiehlt, um das Kind Gehorsam zu lehren: Gewalt und Zwang. Kinder müssen sich seiner Überzeugung nach um jeden Preis „dem Willen der Eltern unterwerfen“. Dies geschieht, indem der Erzieher „seine Macht ausübt, was vor allem durch Strafen geschieht", also durch Zufügung von körperlichem Schmerz: „Mit Recht macht die Pädagogik darauf aufmerksam, dass schon das Kind in den Windeln einen Willen hat und demgemäß zu behandeln ist“.

Sulzer ermahnt Eltern, bei der Erziehung konsequent vorzugehen und keinerlei unpassende Gefühle zu zeigen. „Lasst sie hungern, dürsten, Hitze und Frost ausstehen, harte Arbeit verrichten. Ich verspreche euch, dass die Kinder durch solche Übungen tapfere, standhafte und geduldige Gemüter bekommen werden, die hernach desto eher tüchtig sein werden, die bösen Neigungen zu unterdrücken“.

Konsequente Strenge predigte auch J.B. Basedow in seinem „Methodenbuch für Väter und Mütter, Familien und Völker“. In dem 1773 erschienenen Werk geht es unter anderem um die Neigung bestimmter Kinder, übermäßig zu weinen, um damit ein milderes Verhalten ihrer Eltern zu erreichen. Badedow empfiehlt, „solche beschwerlichen Töne“ zu bestrafen und zwar, „bis nach dem Ende der neuen Züchtigung das Weinen aufhört“.

Seit den genannten und anderen Büchern über die Erziehung sind mehr als zwei Jahrhunderte vergangen. Es war eine Zeit, in der es bei der Erziehung vor allem darum ging, ein Kind nach dem Willen der Eltern und vor allem der damaligen Gesellschaft zu formen. Es ging hier nicht um die Entfaltung eines eigenen Willens und die Bildung einer eigenen Persönlichkeit. Es ging schlicht und einfach um Gehorsam. „Wir definieren den Gehorsam als die Unterordnung des Willens unter einen berechtigten anderen Willen“ lautet eine Definition aus der Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesen, die 1887 erschien.

Die über viele Jahrhunderte praktizierten Erziehungsmethoden waren sicher nicht immer gerecht. Sie waren auch häufig von Missbrauch und Exzessen gekennzeichnet. Doch sie haben unzähligen Generationen geprägt und sind Teil eines Bewusstseins geworden, das nie ganz verlorengegangen ist und die Geschichte eines ganzen Kontinents bestimmt hat. Vergleicht man das mit der permissiven Grundhaltung unserer Tage und den Lebensstil einer Generation ohne Halt und Orientierung, dann fällt es leicht, die Fehlentwicklung zu erkennen, die uns die moderne Pädagogik im Schlepptau der freudschen Psychologie gebracht hat.