Privilegien eines Hauslehrers



Neulich in einer Talkshow im deutschen Fernsehen. Eine Frau um die vierzig berichtete über ihr Lepra-Projekt in Indien und Nepal. Während sie Nepal als ein äußerst friedvolles Land beschrieb, fiel ihr Urteil über Indien alles andere als positiv aus. Sexuelle Belästigungen wären praktisch an der Tagesordnung, erzählte sie. Noch schlechter war ihr Urteil über das indische Schulsystem. Prügelstrafen seien dort an der Tagesordnung und ihre Tochter wäre immer wieder mit grün und blau geschlagen vom Unterricht heimgekehrt. Eine Erfahrung die sie zutiefst schockiert hatte. Schließlich war sie an einer deutschen Schule groß geworden in der es schon seit den sechziger Jahren keinen Rohrstock mehr gab.

Der Lehrer des Mädchens war geradezu belustigt, als sich die fremdländische Mutter erbost darüber beschwerte, dass er ihre Tochter geschlagen hatte. Sie hatte dick anschwellende rote Striemen auf dem Hintern? Das ist eben die Folge, wenn man den Unterricht stört. Blaue Flecken an den Oberschenkeln? Er hätte vierzig Schülern in der Klasse. Wenn er da jede über die Schulbank legen würde, die es verdient hat, würde er kaum noch zum Unterricht kommen. Da gibt es eben manchmal einfach einen kräftigen Hieb auf die Schenkel und die Sache ist erledigt. Kinder müsse man gelegentlich zurechtweisen. Und er würde bei ihrer Tochter keine Ausnahme machen, auch wenn ihre weiße Haut vermutlich empfindlicher sei als die der indischen Mädchen.

Eine indische Schülerin würde übrigens niemals ihren Eltern davon erzählen, wenn sie in der Schule gezüchtigt worden war. Das erfuhr zumindest die frustrierte Mutter bei dieser Gelegenheit. Vermutlich würde eine Inderin von ihrer Mutter gleich noch einmal Prügel beziehen. Wenn sie Pech hatte, würde außerdem abends ihr Vater von dem Vorfall erfahren und indische Väter sind überzeugte Verfechter einer strengen Erziehung. Ganz besonders für heranwachsende Mädchen liegt in jedem indischen Haus ein Rohrstock bereit.

So sieht sie eben aus, die Realität dieser Welt. Was in Mitteleuropa als ungeheuerlich gilt, zählt ein paar tausend Kilometer weiter östlich noch heute zur alltäglichen Praxis.

Doch was das Gesetz sagt, ist nicht immer identisch mit dem, was die Menschen für richtig halten. „Der gehört ordentlich der Arsch versohlt,“ murmelt so mancher Rentner in der Straßenbahn, wenn eine sechzehnjährige partout nicht daran denkt, ihren Platz für die ältere Dame frei zu machen, die direkt neben ihr steht. Und es gibt nicht wenige Familien, in denen genau das noch heute gelebte Realität ist. Nicht nur in der Unterschicht, sondern auch bei den oberen Zehntausend, die schon immer hohe Anforderungen an ihren Nachwuchs gestellt haben und wenn es sein musste, auch zu drastischen Mitteln griffen, um diesen auf Linie zu bringen.

Besonders in den Villen am Stadtrand herrscht daher ein eisiger Wind, wenn es um die Erziehung des eigenen Nachwuchses geht. Schließlich sollte der Junge eines Tages das Familienerbe übernehmen und das Mädchen war dazu da, in den eigenen Kreisen eine gute Figur zu machen und eines Tages einen standesgemäßen Mann zu heiraten. Und dazu gehörte nun mal, dass sie nicht nur ein tadelloses Bildungsniveau vorweisen konnte, sondern sich auch in Gesellschaft zu benehmen wusste.

War sie hübsch, stellte sich meist schon frühzeitig ein Kandidat ein, der auf das Wohlwollen der Eltern stieß und eine angemessene Bildung war lediglich eine Frage der gesellschaftlichen Erwartungshaltung. Zählte sie eher zu den weniger begehrten Exemplaren, war eine akademische Laufbahn umso wichtiger, um ihrem Leben Sinn und Inhalt zu geben und das Ansehen der Eltern zu steigern.

Doch auch die Reichsten der Reichen haben nicht nur brillante Töchter, sondern auch solche, die von der Natur eher mit bescheidener Intelligenz bedacht wurden. Eine Tatsache, mit der sich auf Erfolg und Ansehen programmierte Eltern naturgemäß nicht einfach abfinden wollten und alles in ihren Kräften stehende taten, um das Mädchen von Prüfung zu Prüfung zu prügeln, bis es das ehrgeizige Ziel der Eltern erreicht hatte.

Wobei Prügeln hier durchaus wörtlich zu verstehen ist, denn das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche ist in der Oberschicht weiter verbreitet als allgemein angenommen wird. Das wissen vor allem die Privatlehrer, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass auch eine nur mäßig begabte Tochter zuverlässig ins nächste Schuljahr versetzt wird und am Ende durchs Abitur kommt, um irgend etwas studieren zu können.

Ja, es gibt sie noch, teuer bezahlte Privatlehrer, die sich persönlich um die Bildung höherer Töchter kümmern und dabei wesentlich mehr Rechte haben, als einem gewöhnlichen Lehrer heute zugestanden werden. Es ist ein verschwiegener Berufsstand, der im Verborgenen wirkt und von äußerster Diskretion geprägt ist.

Sie glauben gar nicht, wie viele Eltern zu allem bereit sind, nur damit sie unter Ihresgleichen über die Erfolge ihrer Kinder berichten können,“ berichtete ein Pädagoge, der dem Schuldienst entsagt hatte, um eine weitaus lukrativere Aufgaben als Privatlehrer wahrzunehmen. Und er erklärte auch, wie das konkret aussieht: „Was in der Schule schon lange kein Lehrer mehr darf, ist in den Vorstadtvillen noch heute gang und gäbe. Ein Vater drückte mir zum Beispiel einen Rohrstock in die Hand und meinte, dass ich nicht zögern solle, davon Gebrauch zu machen. Seine Worte dazu waren unmissverständlich: Auf eine Eins wage ich bei ihr kam zu hoffen. Aber zumindest eine Zwei sollte es sein. Für eine Drei gibt es einen Monat Hausarrest. Bei einer vier will ich sie schreien hören. Die Tochter war siebzehn und alles andere als hell im Kopf. Ich hatte also wiederholt das Vergnügen, den Rohrstock tanzen zu lassen und dafür zu sorgen, dass ihr Kreischen im ganzen Haus wahrgenommen wurde.“

Klar ist das verboten. Aber welcher Teenager aus bestem Hause hat wohl den Mut, zum Jugendamt zu gehen und sich über seine strengen Eltern zu beschweren? Schließlich sind sie es, die für das neueste Handy aufkommen, für die Markenschuhe und das üppige Taschengeld. Zwar finden die entscheidenden Prüfungen am öffentlichen Gymnasium statt. Aber wie die Ergebnisse erreicht wurden, interessiert letztendlich niemand. Was hinter elektrischen Toreinfahrten und elektronisch gesicherten Grundstücken geschieht, wissen eben nur wenige Personen und die haben ein Interesse daran, dass nichts nach draußen dringt.

„Auch Mädchen reicher Eltern kommen in die Pubertät und damit in das Alter, in dem die Gedanken abschweifen und sie nicht mehr voll bei der Sache sind,“ bemerkte der hier zitierte Privatlehrer und ergänze: „Dann gehen die Noten in den Keller und die Eltern geraten in Panik. Es kann schließlich nicht sein, was nicht sein darf und es gibt nur ein Mittel, um das Schlimmste zu verhindern: fleißiges Lernen, wie es sich auf Dauer nur durch die regelmäßige Anwendung des Rohrstocks aufrecht erhalten lässt.“

Der Lehrer schien seine Klientel zu kennen. Und er schien deren Ansichten zu teilen. Er hatte sich auf der Welt umgesehen und wusste nur allzu genau, dass das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche unfehlbar war und noch haute auf der ganzen Welt Anwendung findet. Bis auf ein paar europäische Staate natürlich, aber deren Schulsystem kann im weltweiten Vergleich ohnehin nicht mehr bestehen.