Zurechtweisung an Ort und Stelle

Für die Generation unserer Eltern war es noch ein ganz alltäglicher Anblick: Ein Teenager hatte sich einem Erwachsenen widersetzt und dafür - klatsch - kurzerhand eine Ohrfeige bezogen. Dabei war es ziemlich unerheblich, ob es sich dabei um die eigene Mutter, den Vater oder irgend eine andere Person handelte, die der Meinung war, dass die Betreffende "über die Stränge geschlagen" hatte.

Niemand hätte sich seinerzeit umgedreht. Kein Mensch hätte sich aufgeregt. Kein Passant hätte auch nur daran gedacht, dazwischen zu gehen und einzugreifen. Wer nicht hören will, muss fühlen, lautete die allgemeine Einstellung, und eine Ohrfeige war das Mindeste. Und wenn es einen Kommentar gegeben hätte, dann höchsten in dem Sinne von "Wenn das meine Tochter wäre, die würde zu Hause noch eine ordentliche Tracht Prügel kriegen." Denn es musste ja einen Grund geben, weshalb die Betreffende auf offener Straße geohrfeigt wurde und mit der vorlauten Jugend von heute konnte man gar nicht streng genug umgehen.

Es war eine Zeit, als Jungen und Mädchen noch getrennte Schulen besuchten und niemand etwas dabei fand, wenn sowohl Schüler als auch Schülerinnen vor versammelter Klasse bestraft wurden. Die Zeit, als sie zu Hause besser niemand etwas davon erzählte, wenn sie den Stock zu spüren bekommen hatte. Im Gegenteil, sie war froh darüber, dass ihr knielanges Kleid die unübersehbaren Striemen bedeckte, die sich über ihren Po und ihre Schenkel zogen. Denn wenn Mutter davon erfuhr, würde das nicht nur eine Woche Hausarrest bedeuten. Es würden auch die gefürchteten Worte Fallen "Ware nur, bis dein Vater nach Hause kommt." Denn Vater war eine Respektsperson in jenen Tagen. Ein Mann, vor dem sich junge Mädchen fürchteten, bis sie das heiratsfähige Alter erreicht hatten. Ein strenger Hausherr, der nichts durchgehen ließ und natürlich darauf bestand, sich seine Tochter mal wieder "ordentlich vorzunehmen", wenn sie ihre Hausaufgaben vergessen oder gar den Unterricht gestört hatte.

Ich bin in einer kleinen Stadt in Südeutschland aufgewachsen. Als ich dort meine ersten Schuljahre verbrachte, wurde an den Schulen durchaus noch der Rohrstock eingesetzt. Aber die meisten Lehrer beließen es bei ein paar "Tatzen", womit zwei, drei kräftige Schläge auf die ausgestreckte Hand gemeint waren. Dass ein Mitschüler sich über die vordere Bank beugen musste, um ein paar Rohrstockhiebe auf den Hintern zu beziehen, habe ich nur einmal erlebt. Bei den Mädchen hatte man diese Praxis bereits verboten - warum auch immer. Nur am Hilda-Gymnasium wurde der alte Brauch nach wie vor praktiziert. Aber das war ja auch die "Ziegenschule", wo die Elite der Stadt ihre Töchter hinschickte. Und in diesen Kreisen dachte man schon immer deutlich konservativer als in der restlichen Bevölkerung.

In meiner Nachbarschaft wohnte ein Arztmit seiner Frau und den beiden Töchtern. Als wir noch Kinder waren, habe ich mit der Stefanie noch zusammen auf dem Spielplatz herumgetollt. Später, als wir zur Schule gingen, musste sie nachmittags immer zu Hause bleiben, um unter der Aufsicht eines Nachhilfelehrers ihre "Schularbeiten" zu machen, und wir haben uns nur noch selten gesehen. Später dann gingen wir öfter gemeinsam zur Schule - sie ins Hilda und ich zwei Straßenzüge weiter ins Reuchlin. Aber davon durften offensichtlich ihre Eltern nichts wissen. Auf jeden Fall musste ich sie immer an der Straßenecke treffen, wo ich dann auch jeden Morgen stand, um meine kleine Freundin abzuholen. Irgendwann wurde sie mit dem Auto zur Schule gefahren und mittags wieder abgeholt.

Erst viele Jahre später traf ich sie wieder und sie erzählte mir, was vorgefallen war: Mutter war wohl dahinter gekommen, dass sich ihre Tochter heimlich mit einem Jungen traf. Sie hatte daraufhin die größte Tracht Prügel ihres Lebens bezogen und war aus dem Verkehr gezogen worden.

Das passierte eben damals, wenn Mädchen über die Stränge schlagen und es gibt auch heute noch viele Leute, die das für absolut richtig halten.