Erziehung für ein ganzes Leben
Sie begegnete mir auf einer geschäftlichen Veranstaltung und erregte instinktiv meine Aufmerksamkeit. Eine junge Frau, wie sie genau zu diesem Umfeld passte, das vor allem von Jungunternehmern und erfolgreichen Geschäftsleuten geprägt war. Sie war nach meiner Einschätzung in den dreißiger Jahren und strahlte genau die unauffällige Schönheit aus, die ich an Frauen schätze.
Ihr Auftreten war verhalten selbstbewusst und wurde von ihrer betont schlichten, und dem Anlass angemessenen Kleidung unterstrichen. Ihr blondes Haar war relativ kurz gehalten, was ihr fast schon einen strengen Anblick verlieh. Doch ihr natürliches Lächeln milderte diesen Eindruck und ließ sie ausgesprochen freundlich und sympathisch wirken.
Kein Zweifel, sie war keine Angestellte. Sie war auch keine der zahlreichen Jungunternehmerinnen, die sich am Buffet tummelten und eifrig damit beschäftigt waren, einen guten Eindruck zu machen und interessante Kontakte zu knüpfen. Ich war mir sicher, dass sie beruflich fest im Sattel saß und in ihrem Unternehmen etwas zu sagen hatte.
Ich suchte unauffällig ihre Nähe und ließ es mehrere Male auf einen Blickkontakt ankommen. Es war jeweils nur ein winziger Augenblick, doch sie sich mir nicht aus und mir entging nicht, dass sie mich im Auge behielt, während ich mich einer der Bediensteten zuwandte, die gerade in meine Nähe kam und mir Gelegenheit bot, mein mittlerweile leeres Glas loszuwerden. Auch sie hatte ein leeres Glas in der Hand gehalten, erinnerte ich mich gerade noch rechtzeitig und wandte mich ihr spontan zu.
„Darf ich Ihnen behilflich sein?“, lautete meine Frage und ich schon hatte ihr Glas seinen willkommenen Abstellplatz gefunden, während ich ihr mit einem fragenden Blick ein gefülltes Exemplar hinhielt. Sie nahm an und ich wusste, dass der Kontakt hergestellt war. Eine Tatsache, die mich mit Erleichterung erfüllte, denn normalerweise werde ich immer etwas unbeholfen, wenn ich es mit einer Frau zu tun habe, die mein Interesse geweckt hat.
So ein Empfang bietet den Vorteil, dass man immer einen Anknüpfungspunkt findet. Man stellt sich vor. Man erzählt, was man beruflich so tut und zeigt Interesse an dem, womit der oder in diesem Fall die andere ihren Lebensunterhalt verdient. Das kann ganz interessant sein, weil man dabei interessante Einblicke in das Arbeitsleben seiner Mitmenschen erhält. Und in diesem Fall stillte es auch eine ganz persönliche Neugier in mir, denn es war sicher kein Zufall, dass mein Blick ausgerechnet auf diese Frau gefallen war.
Sie hatte ein Diplom als Versicherungswirtin und war in der Versicherungsagentur ihres Vaters tätig, erfuhr ich. Besser gesagt, es war die ehemalige Agentur ihres Vaters, denn dieser war bereits vor sechzehn Jahren verstorben und hatte ihr die Fortführung seines Lebenswerks übertragen. Die aus meiner Perspektive gesehen junge Frau war also die Besitzerin eines alteingesessenen kleinen Unternehmens und wenn ich es richtig verstanden hatte, Chefin über drei Angestellte.
Unser Gespräch verlief deutlich zu lange für eine der üblichen flüchtigen Begegnungen am Rande eines geschäftlichen Empfangs. Und wir trennten uns erst, als sich auch die übrige Gesellschaft allmählich aufgelöst hatte und dem Ausgang zustrebte. Immerhin hatte ich Ihre Visitenkarte und sie schien auch meine nicht ohne Interesse entgegengenommen zu haben. Da es eigentlich keine geschäftlichen Anknüpfungspunkte zwischen uns gegeben hatte, musste der Grund dafür wohl auf einer anderen Ebene liegen, schlussfolgerte ich und die Gedanken an sie begleiteten mich weiterhin, als ich im Auto saß und durch den dichten abendlichen Verkehr nach Hause fuhr.
Sie war schlank und zählte zu den wenigen Frauen, die mir weiter als bis zum Kinn reichten. Unter ihrer weißen hatte sich ein eher kleiner, aber durchaus bemerkenswerter Busen abgezeichnet. Und ihr schwarzer Rock wurde von einem recht kompakten, aber wohlgeformten Hintern geprägt. So etwas entgeht einem Kenner wie mir nie und ist das erste Merkmal einer Frau, das meine Augen zu beurteilen versuchen.
Sie hatte den Eindruck einer ausgesprochen pflichtbewussten Frau gemacht, die mit Fleiß bei der Sache ist und ihre Arbeit ernst nimmt. Ein tüchtiges Mädchen also, das vermutlich Vaters Liebling gewesen war. Oder das eine nachhaltige Erziehung genossen hatte, die noch immer in ihr wirksam war. Denn sie war zwar selbstständig und ich hatte den Eindruck, dass sie das Geschäft ihres Vaters mit Erfolg weiterführte. Aber sie macht nicht den Eindruck einer Frau, die ihren Beruf liebte und mit Leib und Seele bei der Sache war. Ich hatte eher den Eindruck gehabt, dass sie schlicht und einfach ihre Pflicht tat und sich die ihr aufgetragene Aufgabe fügte.
Wenige Tage nach unserer eher zufälligen Begegnung telefonierten wir mehrmals miteinander. Zuerst nur kurz und freundlich unverbindlich. Aber schon das zweite Gespräch dauerte ziemlich lang und war der Auftakt zu regelmäßigen Kontakten, die manchmal am Telefon, gelegentlich zwischen zwei Terminen in irgend einem Café und von Zeit zu Zeit auch in Form eines ausgiebigen Abendessens stattfanden.
Es war, wie ich vermutet hatte. Die attraktive Versicherungsmaklerin, die ich schon bald als eine gute Freundin bezeichnete, war tatsächlich das Produkt eines äußerst willensstarken Vaters. Sie hatte eine strenge Kindheit erlebt, die stets von dem Grundsatz „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ geprägt war. Schon als Kind hatte sie feste Zeiten zum Spielen gekannt hatte oft nach Hause müssen, wenn andere noch draußen bleiben durften. Unpünktlichkeit hatte sofort eine Ohrfeige nach sich gezogen und jede Form von Aufbegehren hatte Mutters Kochlöffel auf den Plan gerufen. Ein Mädchen also, das früh lernen musste, dass es besser ist, gehorsam zu sein und das zu tun, was von einer braven Tochter erwartet wurde.
Wann ihr Vater ihre Erziehung übernommen hatte, wusste sie nicht mehr so genau. Doch es muss wohl in dem Alter gewesen sein, in dem junge Mädchen allmählich zur Frau werden und zunehmend gegen ihre Eltern zu rebellieren beginnen. Eine Entwicklung, die es bei ihr nur ansatzweise gegeben hatte, denn Vater hatte genau gewusst, was einem jungen Ding fehlte, wenn es sich widerspenstig zeigte und die elterlichen Anordnungen missachtete.
Es war ein breiter Ledergürtel gewesen, mit dem er ihre allmählich zur vollen weiblichen Blüte heranwachsenden Hinterbacken bearbeitet hatte. Nicht nur gelegentlich, sondern als ständiger Bestandteil seiner Erziehung. Denn ein junges Mädchen braucht eine harte Hand, so seine Meinung, und man muss ihm straffe Zügel anlegen, wenn daraus eine ordentliche Frau werden soll, die in der Lage ist, das Werk seines Vaters fortzuführen. Und dafür hatte er sie auserkoren, denn einen männlichen Erben gab es nicht und so galt es in ihrem Elternhaus als ausgemacht, dass sie eines Tages die väterliche Versicherungsagentur fortführen würde.
Hat es ihr geschadet? Vermutlich nicht. Aber sie ist zu einem zwiespältigen Menschen geworden. Zu einer Unternehmerin, die es gewohnt ist, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und andere zu führen. Aber auch zu einer Frau, die sich danach sehnt, sich gelegentlich rückhaltlos in die Hände eines Mannes zu geben, der ihr Grenzen aufzeigt. Und der sie zurechtweist, wie sie es gewohnt ist.